(Hinweis: Der Text ist von 2009, als es Karstadt sehr schlecht ging. Deshalb heute hier, weil es auf Facebook um die Einfädelfee geht.)
Erdgeschoß. Im Erdgeschoß sind die hochnäsigen Waren
zuhause. Zuerst der Schmuck und die Uhren, dazu das Parfum, die Cremes und
Puder. Dazu noch die Lederwaren, die Schreibwaren und die teuren Süßwaren. Die
Verkaufstheken sind so kompliziert angeordnet wie die Empfangshallen in der
Verbotenen Stadt des chinesischen Kaisers. Die schönste Stelle im Erdgeschoß
ist das ganz in die Ecke verbannte Regal mit den billigen Parfums und Verliererrasierwässern
von Nonchalance, Tabac und Old Spice.
1. Stock. Hier sind die Damenoberbekleidung und die Schuhe
untergebracht. Die verschiedenen Teile der Damenoberbekleidung muß man sich
vorstellen wie Wortarten und der gesamte 1. Stock ist eine Grammatik. Also sind
zum Beispiel Hosen die Substantive, Blusen sind Verben und der rotgestreifte
Schal ein Indefinitpronomen. Den ganzen Tag suchen Kundinnen, bis sie einen
richtigen Satz zusammengekauft haben. Mit viel Geschmack und etwas Glück ist es
sogar ein kurzes Gedicht.
2. Stock. In diesem Stock gibt es Herrenkleidung. Hier
bedient ein langgedienter Mitarbeiter und verkauft Anzüge seit einer Ewigkeit.
Ob ein Anzug zwickt oder paßt, das konnte er nach 10 Jahren aus den
Augenwinkeln sehen. Jetzt, nach 30 Jahren, sieht er nicht nur, ob der Anzug
seinem Träger paßt, sondern auch, ob der Anzugträger seinen Zielen und Aufgaben
gewachsen sein wird, die er in diesem Anzug zu bestehen hat.
3. Stock. Hier ist die Computerabteilung, das elektrische
Zubehör, die Sportartikel und Multimedia. Phono hat auch ein Plätzchen
gefunden. Einst stolz über das halbe Stockwerk verteilt, mit einer Theke zum
Plattenvorhören, hat Rock Pop International genau so viel Regalplatz wie die
bunten Plastikwäscheklammern. Weiter hinten leuchten die Spielwaren. Die
Spielwarenabteilung versorgt das restliche Kaufhaus mit kinetischer Energie.
Die Energie wird aus dem zentrifugierten Geplärre, Gejammer und Geschrei
gewonnen, das die Kinder tagsüber hier veranstalten. Mama kuck mal hier gibt es
ganz süße Baby Born Sachen, Papa hier ist der Lego Ritterburg sieh doch mal.
Falls die Kinder zu wenig Spektakel gemacht haben, müssen Galeerenstoffbären
nachts die Versorgungslücke wegrudern. Auf der Rolltreppe hatte mir meine
Mutter erklärt, daß ein Kaufhaus ein Laden sei, in dem man alles kaufen könnte,
was es gibt. Ich verstand das so, daß von allen Gegenständen, die es auf der
Welt gibt, mindestens ein Exemplar in diesem Kaufhaus vorhanden sein müßte. Sozusagen
eine Arche Noah für Gegenstände. Allerdings verstand ich überhaupt nicht, was dann
unser Auto im Kaufhausparkhaus machte. Würde unser Auto jetzt hier verkauft werden?
4. Stock. Den 4. Stock teilen sich die Gardinen mit den
Handtüchern, der Tischwäsche und der Bettwäsche. Und natürlich die Kurzwaren.
Die Kurzwarenabteilung ist der geheime Mittelpunkt des Kaufhauses. Sie ist
schwierig zu finden, und es ist denkbar, daß sie an manchen Tagen gar nicht
vorhanden ist; man sollte nach dem großen Knopftisch Ausschau halten. Und der
wichtigste Artikel der Kurzwaren, das Herz des Mittelpunktes, gut versteckt zwischen
Zackenscheren, Armspangennadelkissen, Nahttrennern und Handmaßen, das ist die
kleine, silberne Einfädelfee.
5. Stock. Hier gibt es die kleinen und großen Küchengeräte,
das Porzellan, Geschirr und die Bestecke, dazu die Lampen und Glühbirnen. Dies
ist das Stockwerk, in das früher schnaufende alte Tanten aufbrachen, um ihren
Nichten etwas Aussteuer zum Namenstag hinzuzuspendieren. Günstigenfalls die
70teilige Besteckgarnitur, oder aber auch nur eine häßliche Kuchenplatte, wenn
sie ihre Nichte nicht leiden mochten. Diese ganzen Angelegenheiten erfordern
aber einen so hohen Zivilisationsgrad, den wir kaum mehr erreichen werden
(Tanten, übergewichtige Tanten, Nichten, Heirat, Aussteuer, Aussteuertruhen,
Kaffeetrinken, Buttercremetorten).
6. Stock. Betriebsrestaurant. Im Betriebsrestaurant ist das
Angebot der Woche ein Putenschnitzel mit Salzkartoffeln und Leipziger Allerlei.
Salzkartoffeln sind einfach Kartoffeln ohne irgendetwas, genau wie ein normales
Fahrrad immer schon ein Tourenfahrrad ist. Das Leipziger Allerlei sind einfach
viele Erbsen mit einigen Möhren und wenig Blumenkohl. Eigentlich gehörte noch
Spargel hinein, aber den kann man höchstens mit der Einfädelfee – wenn man denn
eine hätte – auf dem Teller finden. Im Betriebsrestaurant riecht es noch immer
nach Zigaretten, die hier vor dreißig Jahren geraucht wurden. An einem
Fensterplatz kann man weit herunterblicken, und es ist immer viel Betrieb.
(11.6.2009)
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