Donnerstag, 12. September 2013

Unter die Räder (1)



Ein Freund schrieb vor einiger Zeit, Unterm Rad von Hermann Hesse hätte ihn wieder sofort sehr beeindruckt. Es ist eigentlich seltsam, daß ich es nie gelesen hatte. Seltsam deshalb, weil ich den Steppenwolf mehrfach, Siddharta ebenso, bestimmt auch Demian, Narziß und Goldmund, die Morgenlandfahrt und selbst Das Glasperlenspiel als Sechzehn- oder Siebzehnjähriger gelesen habe. Es war das Alter, in dem ich kopfüber in die Weltliteratur hineinsprang. Einiges davon blieb mir unverständich (Joyce), anderes war etwas unangenehm (Grass) oder einfach nur bewundernswert (Th. Mann). Besondere Neigung  aber faßte ich damals zu Hesse und Kafka. Dieser bezeugte die Unverständlichkeit und Verschlossenheit der Welt, so wie ich die Welt unverständlich und verschlossen fand. Hesse tröstete mich anschließend damit, es sei das Wichtigste, mich selbst zu erkennen. Denn würde ich mich selbst finden, könnte ich alles erreichen. Die Hessehelden hätten es also geschafft, durch ihre Innerlichkeit selbst in einer kalten Kafkawelt zur Wahrheit und zum Licht zu gelangen, während Kafkahelden selbst eine sonnige Hessewelt völlig rätselhaft und unzugänglich gefunden hätten. Der Steppenwolf hätte nach einer Woche im Schloß beim Tee gesessen, Josef K. hingegen noch monatelang ratlos Steinchen in Siddarthas Ganges geworfen. Es ist ja oftmals, die Probleme, die in Buch 1 auftauchen, von einer Figur aus Buch 2 lösen zu lassen. Old Shatterhand hätte diesen ganzen Ärger mit den Buddenbrooks gewiß rasch gelöst.

Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend

Das Milieu Anfang der Achtziger Jahre war für Hesse deutlich geeigneter. Es war eine Idee der Zeit, sich selbst zu finden, nicht weil man sich verloren hätte, sondern weil man noch nie mit sich übereingestimmt hatte, was das auch immer bedeutete. Kafkas Unverständlichkeit der Welt paßte da viel weniger hinein – nein, wenn man irgendwas genau verstanden hatte, dann war es diese Welt und die große Gefahr, in der sie sich gerade befand, weil Pershing 2-Raketen in Deutschland stationiert würden. Kafkas Nichtverstehen wurde sogar in die Psychologie abgedrängt – die Welt ist abweisend, weil es die verdrängte Welt im eigenen Kopf ist. Und auch daraus wäre ein Ausweg das Hessesche Sichselbsterkennen. Den Reigen zusammen mit seinem neuen Selbst tanzen. Aber man tut Hesse natürlich unrecht, wenn man ihn auf Kleiner-Prinz-Ausmaße zurechtstutzt. Auch dort gab es wohlige Abgründe. Ganz besonders beim Steppenwolf: 

 „Ein anderes war, daß er zu den Selbstmördern gehörte. Hier muß gesagt werden, daß es falsch ist, wenn man nur jene Menschen Selbstmörder nennt, welche sich wirklich umbringen.“

Großartig. Man konnte Selbstmörder sein, aber trotzdem weiterleben. Selbstmörder, ohne dass es weh tut. Selbstmörder, ohne dass man nachher tot ist. Selbstmörder, aber trotzdem Currywurst doppelt Pommes essen. Das war ein super Konzept, das mir sofort einleuchtete. Ich konnte mein Selbstmördersein noch eine Weile lebendig genießen. 

„Aber dem Selbstmörder ist es eigentümlich, daß er sein Ich, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht, als einen besonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, daß er sich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stünde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen.“

Ja, so war es doch auch! Das alles war total richtig. Allerschmalste Felsenspitze! Nicht genug, dass ich jetzt selbst Selbstmörder wurde, sondern ich verlieh das Buch auch an alle wichtigsten Freunde. Einige wurden genau so euphorisch, und einige Monate lang waren wir Selbstmörder ohne Bahngleise, ohne Strick, ohne Pistole oder Rasierklinge, aber gefährlich, zweifelhaft und gefährdet. In der Zwischenzeit las ich den restlichen Hesse. Aber niemals Unterm Rad.

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